„Wir brauchen …“ Freifahrtscheine für 1826 Tage

von 25. Februar 2016

Wir glauben Worten, als wären es Taten und sind enttäuscht, wenn sich herausstellt, was von Anfang an klar war: leere Versprechen. „Wir brauchen!“ Verstehen Sie die Logik der Argumentation? Wenn Politiker täten, was wir brauchen, dann hätten wir, was wir wollten und bräuchten nichts mehr, doch genau das wäre ja das Ende der Marktschreierei.

„Es ist Zeit für …“ ist auf den Plakaten der geschicktesten Partei-Ideologen zu lesen. Alter Wein in neuen Schläuchen. Die Einheitsparteien-Gemütlichkeit der Etablierten scheint durch die AfD gestört, die das Heer der Enttäuschten wie der Schlangenbeschwörer die Kobra aus dem Körbchen holt. Im Osten wiederholt sich die piefige Schlichtheit des Herbstes 1989, das Dröhnen der Artikulationsschwachen, der Enttäuschten, die wieder eingesammelt und ins System zurückgeholt werden müssen. Die Befriedungsrolle des politischen Kabaretts erbt die AfD von Republikanern, DVU und Schillpartei, während die anderen die einschläfernde Langeweile weiter professionalisieren. Die Grünen beschießen den vermeintlichen Gegner mit dem billigen Straßenkampfspruch „Nazis raus“, der das „Ausländer raus“ der anderen Seite quasi kopiert und damit die eigene Dialogunfähigkeit unter Beweis stellt. Während dessen ist die CDU bemüht, sich mit einem Teil ihrer Wahlplakate wie ein Chamäleon an den „Angstgegner“ farblich und inhaltlich so geschickt anzupassen, dass es für den unbedarften Wähler teilweise schwer ist, die einen von den anderen zu unterscheiden. Obwohl die FDP mit so viel Farbe wie nie versucht, sich als neue Partei zu verkaufen, lässt sie sich indes auf das riskante Wortspiel vom „Vorwärtsruck“ ein. Das Wort „Rechtsruck“ wird prompt dechiffriert und das Motiv, wo immer es hing, heftig attackiert.

„Wir schaffen das“, heißt der inzwischen in alle Köpfe gemeißelte Satz der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wir ist das prophetische Wort einer vermeintlichen Gemeinschaft. Es nimmt alle in Haft. Ungefragt, subtil totalitär. Viele Ichs werden in ein Wir gepresst: das Ich für den Maximalkonsum, das Wir für Mobilisierung und Gleichschaltung. Wer nicht pariert, wird stigmatisiert, in eine Ecke gepresst und vom elitär organisierten Tribunal der vermeintlichen Mehrheit als „Pack“ entsorgt. Das Wir von den Kasernenhöfen der Parteien transportiert deren eigenen Macht- und Wahrheitsanspruch. Das mit Wir wir gemeint wären, wird eine schöne Illusion bleiben.

Die Hauptbotschaft des Polittheaters 2016 lautet: „Gehe zur Wahl! Denn wir brauchen Deine Stimme für unsere Diäten und das Ticket zur Macht für fünf Jahre.“ Drin bleiben oder reinkommen, Karriere fortsetzen oder Karriere machen. Das Volk soll an einem Tag sagen, was es 1826 Tage nicht korrigieren kann. „Die Wahl is der Rummelplatz des kleinen Mannes!“, schrieb Kurt Tucholsky schon 1930. Daran hat sich nichts geändert, doch das alte Spiel funktioniert immer wieder. No risk, no fun!

Kurt Tucholsky: „Ein Älterer aber leicht besoffener Herr“ bei Youtube

https://www.youtube.com/watch?v=Ke-hn1ES2cw

Kurt Tucholsky – Ein älterer aber leicht besoffener Herr

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Sprecher: Gert E. Schäfer; Aus der DDR-Veranstaltung JAZZ LYRIK PROSA