Gabriels Inszenierung im Plattenbauviertel

von 31. August 2010

Überall im Land sind derzeit Politiker auf Sommerreise. Erst vorige Woche war Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg zu Gast in Sachsen-Anhalt. Am Dienstag nun schaute SPD-Chef Sigmar Gabriel vorbei. Mit Blick auf die bevorstehenden Landtagswahlen im März nächsten Jahres war natürlich auch die Landes-SPD vertreten. Landeschefin Katrin Budde hatte sich der Sommertour durch Halle ebenso angeschlossen wie der Landtagsabgeordnete Thomas Felke und die beiden Kandidaten Burkhard Feißel und Mario Kremling.

Begleitet von einem Journalistentross ging es zunächst los in Halle-Neustadt. Diverse Tageszeitungen wie Kölner Stadtanzeiger oder Tagesspiegel, das Privatfernsehen, der Bayrische Rundfunk und der Deutschlandfunk reisten mit Gabriel in einem schwarzen Bus an. Erste Station: der Neustädter Markt. Die Journalisten bekamen die Bilder, die ihnen gefallen. Kaffeetrinken beim vietnamesischen Händler aus dem Plastikbecher, ein paar Meter weiter dann die maroden und verfallenden Scheiben-Hochhäuser und Ramschstände mit Schildern wie “Alles muss raus“. So sieht das Elend aus. So ist es perfekt inszeniert. Die Bilder sind im Kasten und werden wohl das sein, was die meisten Leser und Zuschauer von Halle zu sehen bekommen.

Bürgermeister Thomas Pohlack erläutert vor Gabriel und den Journalisten, dass von den fünf Hochhäusern nur eins genutzt wird. Von der Arge. “Wir haben Schwierigkeiten, für die anderen Häuser Nutzungen zu finden”, führte Pohlack aus. Das Land will seinen 20-Geschosser nicht nutzen. Zwei Häuser sind in der Zwangsversteigerung, ein Besitzer sei schlicht nicht auffindbar. Ob Abriss oder Teilrückbau, das werde gerade geprüft. Ganz ohne Proteste geht das aber nicht vonstatten. “Die Neustädter identifizieren sich mit den Häusern. Wir müssen uns den Vorwurf gefallen lassen, zielgerichtet DDR-Architektur zu zerstören.” Und die Scheiben sind eine ganz spezielle Baukonstruktion inmitten der Plattensiedlung. Doch nach derzeitigem Kenntnisstand wird ihnen wohl das gleiche Schicksal drohen wie vielen anderen Gebäuden in Neustadt. 5.000 Wohnungen wurden schließlich allein in Halle-Neustadt in den letzten Jahren schon abgerissen, 12.000 waren es in ganz Halle.

Doch nicht nur abgerissen wird in Neustadt, auch saniert. Zum Beispiel die Neustädter Passage, die “Einkaufsmeile” in Halle größtem Stadtteil. Viele Millionen Fördermittel flossen hier hinein. Durch den Markt sei in diesem Bereich tagsüber Leben, nachts aber tote Hose, meint Pohlack. Das liegt nicht zuletzt an fehlenden gastronomischen Einrichtungen in diesem Bereich und den fehlenden Einwohnern. Die Scheiben sind leer, die nächsten Wohnblocks liegen auf der anderen Seite der Straße.

Es kam die Diskussion auf die Wahlbeteiligung. Die liegt in Neustadt dramatisch niedrig, bei nur 40 Prozent. Und die zur Wahlurne gehen, stimmen meist für die Linkspartei. Fast 50 Prozent holten die Postkommunisten in einigen Wahlbereichen. Geschosswohnungsbau heißt offenbar niedrige Wahlbeteiligung, konnte Gabriel nur noch fragend feststellen.

Nur einen Steinwurf vom Verfall entfernt ist aber auch etwas Neues entstanden. Dank der Internationalen Bauausstellung IBA 2010 steht Mitteldeutschlands größter Skatepark. Drei Jahre hatte Sigmar Gabriel einst in Goslar versucht, einen solchen Park durchzusetzen. Immer wieder scheiterte er an irgendwelchen Sicherheitsbedenken städtischer Behörden. Solche Probleme gab es in Halle nicht. Dafür hatten die Anwohner Angst vor Lärm und drohten mit Klagen. Nun steht das 2007 angeschobene Projekt in Halle, das aus der Luft betrachtet den Schriftzug HALLE ergibt. Gut genutzt ist die Anlage, wie Vertreter des verantwortlichen Vereins congrav e.V. erläuterten. Selbst aus München und Berlin kämen Skater hierher. Und für die ortsansässigen Kinder und Jugendlichen aus den bedürftigen Familien gibt es einmal pro Woche kostenlose Kurse, bei denen auch die Skateboards kostenlos ausgeliehen werden können.

Weiter ging es zur IBA-Treppe, an der die halleschen Projekte der Internationalen Bauausstellung aufgelistet sind. Gabriel bewies durchaus Kenntnis über Halle. Dass der abgebildete blau angestrichene Tunnel nicht der S-Bahn-Tunnel war sondern der zu den Franckeschen Stiftungen ist verzeihbar. Direkt hinter der Holztreppe steht das Gesundheitszentrum. Groß prangt dort noch in DDR-Lettern “Zentralpoliklinik” drüber. So mancher glaube, Ärztehäuser seien eine heutige Erfindung, sagte Gabriel.

Weiter ging es vorbei an einem Altenheim, errichtet an der Stelle eines abgerissenen 11-Geschossers, in die Grüne Galerie. Hier konnte Jana Kozyk, Geschäftsführerin des städtischen Wohnungsunternehmens GWG, den Umbau eines Plattenbaus im Oleanderweg präsentieren. Aus “StiNo-Wohnungen” (Stinknormal) wurden individuelle Appartements mit verschiedenen Wohnungsgrößten und Grundrissen. Mietergärten gibt es nun hier, neue Balkone und eine moderne Ausstattung. Mehr als 400 Bewerber habe es für die 71 Wohnungen gegeben. Doch der Umbau war nur mit Hilfe von Fördermitteln möglich. Und so stutze Gabriel natürlich beim Wort “modellhafter Umbau”. Ehrliche Worte von Politikern sind selten, hier fielen sie. “Ich bin skeptisch bei Modellprojekten. Die werden meist nur schnell vor Wahlen aufgelegt und für ein zweites Projekt gibt es dann keine Mittel.”

Vorbei ging es nun an einem weiteren IBA-Projekt, dem umgebauten Platz am Tulpenbrunnen. Er lag auf dem Weg zum Nachbarschaftszentrum Pusteblume. Dort wurden einige Vertreter örtlicher Initiativen und die SPD-Ortsvereinsbasis zusammengetrommelt. Ein kurzer Vortrag mit Zahlenmaterial von Bürgermeister Thomas Pohlack stand an. So hat Neustadt einen drastischen Bevölkerungsschwund zu verkraften. 90.000 Einwohner lebten hier noch 1990, heute sind es 45.000. 2025 werden es wohl nur noch 30.000 sein. Die Abwanderung ist mittlerweile nicht mehr das Problem, sondern die Altersstruktur und die niedrige Geburtenrate. Zwischen 45 und 51 Jahren je nach Stadtgebiet liegt das Durchschnittsalter.

Und auch niedrige Einkommen und fehlende Arbeitsplätze sind ein Problem. 9.300 Neustädter leben von Hartz IV, ein Drittel aller halleschen Hartz IV-Empfänger. Dabei wohnt nur ein Fünftel der halleschen Bevölkerung hier. 66 Prozent aller Kinder leben in den Plattenbaugebiet von Hartz IV. Ob das Einfluss hat auf die Bildungschancen der Kinder? Und welche Auswirkungen hat der hohe Migrantenanteil an der Sekundarschule Kastanienallee? Immerhin kommt ein Drittel aller Schüler aus ausländischen Familien. Und das, obwohl in Halle nur 4 Prozent Ausländer leben, in der Umgebung der Schule zehn Prozent. Wie die beiden Schulsozialarbeiterinnen berichteten, hätte man trotzdem kein Migrationsproblem. Die Schüler seien nicht besser oder schlechter als ihre deutschen Mitschüler. Eher hätte die Armut Auswirkungen auf die Bildungschancen. Ein Problem in Sachsen-Anhalt sei ohnehin die mangelnde Akzeptanz der Sekundarschule allgemein. Diese werde als Resteschule wahrgenommen, meinte SPD-Landeschefin Budde. Nicht ohne die Ansage, das nach der Landtagswahl ändern zu wollen. Die beiden Sozialarbeiter berichteten indes auch darüber, dass an der Grundschule neun von zehn Kindern die Klassenfahrt vom Amt bezahlt bekommen, weil den Eltern das Geld fehlt. In der Sekundarschule seien es noch 60 Prozent. Und auch der bauliche Zustand der Kastanienschule sei besorgniserregend. Vor allem die Turnhalle müsste erneuert werden. Auch der bauliche Zustand habe was mit Lernqualität zu tun, befand Gabriel daraufhin. Verfall nicht nur bei den Plattenbauten, sondern auch bei den Schulen? Den Eindruck machen solche Äußerungen. Nebenbei wird erwähnt, dass auch in Neustadt Schulen durch ein PPP-Projekt und durch das Konjunkturpaket saniert werden und wurden.

Und auch der Verfall bei Plattenbauten ist keinesfalls die Regel, wie die Hochhäuser am Beginn der Tour suggerieren konnten. 55 Prozent aller Wohnungen sind saniert, 33 Prozent teilsaniert. Und nur 12 Prozent aller Wohnungen in Halle-Neustadt befinden sich noch im originalen DDR-Charme. Zu großen Teilen in Privatbesitz. Spekulanten würden auf das schnelle Geld hoffen, mutmaßten einige Vertreter der Wohnungswirtschaft. Damit auch der Rest der Häuser saniert werden kann, braucht es Fördermittel. “Die Kürzung der Stadtumbaumittel wäre eine Katastrophe”, meinte Jana Kozyk von der GWG. Das leuchtet auch Gabriel ein. Schließlich ist das Stadtumbauprogramm so aufgebaut, dass je ein Drittel von Stadt, Land und Bund gezahlt werden. Kürzt der Bund nun seine Mittel, setzt sich das entsprechend nach unten durch. Dabei sei der Städtebau auch eine regionale Form der Wirtschaftsförderung, so der SPD-Chef.