Schwarzwohnen in Halle an der Saale

von 9. April 2011

Nach den politischen Ereignissen von 1968 kam es in den westeuropäischen Ländern zu Hausbesetzungen, wo sich die „Szene“ autonome Freiräume zum Wohnen, zur Arbeit und zur kulturellen Nutzung schuf. Gab es das auch in der ehemaligen DDR?

Dieser Frage geht Udo Grashoff im gerade erschienenen Heft 23 der „Mitteldeutschen kulturhistorischen Hefte“ nach. Ja es gab Schwarzbezug (sprich illegales Beziehen) von Wohnungen, das hatte aber – wie der Autor gleich am Anfang betont – nichts mit den Hausbesetzungen in Berlin oder Hamburg zu tun. Es war kein politischer Protest, sondern private Selbsthilfe angesichts der Wohnungsnot in der DDR.

Die Anfänge des „Wohnungsbezuges ohne staatliche Zuweisung“ liegen in den späten 60er Jahren. Bevorzugte innerstädtische Gebiete waren die maroden Straßenzüge der Kleinen Marktstraße, der Fleischerstraße, sowie der Großen und Kleinen Wallstraße. Auch am Steg und an der „Spitze“ nisteten sich die illegalen Bewohner ein.

Einer der Pioniere des Schwarzwohnens in Halle war Toni. Der ABF-Student wollte den sehr beengten Verhältnissen in der elterlichen Wohnung entfliehen und bezog daher eine kleine dunkle Wohnung in einem Hinterhaus der Kleinen Marktstraße 3. Das Domizil ohne Wasseranschluss entwickelte sich schnell zu einem Treffpunkt der studentischen „Boheme“. Hier hörte man Musik, las Gedichte, philosophische Werke und diskutierte darüber. Aber Schwarzeinzug war nicht nur für Studenten und Aussteiger, sondern auch für manchen Normalbürger ein Ausweg aus der Mangelsituation, vor allem für junge Leute, die sonst kaum eine Chance auf eine legale Wohnung hatten.

Mit dem weiteren Aufbau der Plattenbausiedlungen in Halle-Neustadt, Südstadt, Silberhöhe oder Heide-Nord wurden immer mehr Häuser in der Innenstadt ihrem Schicksal überlassen. Und so wurden in den 80er Jahren leer stehende Wohnungen (sprich Bruchbuden) auch im Paulusviertel, in der August-Bebel-Straße oder in der Mansfelder Straße zum Schwarzwohnen genutzt.

Ob lautstarke Feten, Räumung wegen Baufälligkeit, Ärger mit der Meldestelle, Überwachung durch die Staatssicherheit – die 96 Seiten erzählen von abenteuerlichen und humorvollen Episoden unter widrigen Wohnbedingungen. Erst im Sommer 1990, als die staatliche Wohnraumlenkungsverordnung außer Kraft gesetzt wurde, verlor das Delikt „Schwarzwohnen“ seine Existenzgrundlage.

Das reich illustrierte Heft beleuchtet ein Stück Stadtgeschichte, das bisher wenig Beachtung fand und doch so viel über die untergehende DDR erzählt. Besonders informativ sind dabei die privaten Fotos von ehemaligen „Schwarzwohnern“, die beschämend zeigen, wie die Altstadt von Halle in den 70er und 80er Jahren ihrem Verfall preisgegeben wurde. Dass so manches Haus nicht abgerissen wurde und heute in neuem Glanz erstrahlt, ist auch den jungen Leuten von damals zu verdanken.

Manfred Orlick

Udo Grashoff
„Leben im Abriss – Schwarzwohnen in Halle an der Saale“
Hasenverlag Halle/Saale 2011, Heft 23 der „Mitteldeutschen kulturhistorischen Hefte“, 12,80 €, 96 S., ISBN 978-3-939468-58-5