Überleben in Workuta

von 19. April 2009

(ens) Über 500 Menschen sind durch Urteile der nationalsozialistischen Justiz im Roten Ochsen in Halle (Saale) ums Leben gekommen. Doch auch nach dem zweiten Weltkrieg hat das Gefängnis nichts von seinem Schrecken verloren. Nach der Übergabe durch die Amerikaner richtete der sowjetische Geheimdienst NKDW hier seinen Sitz ein. Erstmals wurde die Haftanstalt dabei auch zeitgleich zum Gerichtsstandort, Urteile wurden gefällt. Zumeist nach dem russischen Strafgesetzbuch von 1926 abgeurteilt, verschwanden tausende Menschen über Jahre oder für immer in russischen GuLag Arbeitslagern.

Zum Beispiel in Workuta am Nordpolarmeer – einem unwirtlichen Gebiet, in dem im Winter bis zu 50 Grad Minus herrschen. Neun Monate ist hier Winter. Im Dezember und Januar wird es hier, unweit des Polarkreises, überhaupt nicht hell. Primitive Baracken bestimmen das Bild, umzäunt von dreifachem Stacheldraht.

Dorthin musste der Student Horst Hennig aus Siersleben. Hennig, SED-Mitglied und überzeugter Kommunist, war auch Demokrat. Und das wurde ihm zum Verhängnis. Denn bei einer Studentenratswahl an der Martin-Luther-Universität beschwerte sich Hennig über die bereits feststehenden Vertreter. Er strich einige Namen durch und fügte andere hinzu, statt den Wahlschein nur zu falten. Unter dem Vorwurf, eine "illegale Widerstandsgruppe an der Uni" gebildet zu haben, wurde Hennig mit sechs weiteren Studenten verhaftet. Weder Eltern noch Gasteltern bekamen davon etwas mit und wussten auch Wochen später nichts von der Verhaftung. Hennig galt es spurlos verschwunden.

Im Roten Ochsen wurden ihm unterdessen Spionage und Trotzkismus vorgeworfen. Urteil: 25 Jahre Strafarbeit in Sibirien. Hennig wurde unter Tage in der Kohleförderung eingesetzt, blieb insgesamt 5 Jahre in Workuta und überlebte auch den Lager-Aufstand 1953 nach dem Tode Stalins. Umklassifiziert als Kriegsgefangener, damit die Sowjetunion nicht zugeben musste auch Zivilisten interniert zu haben, kehrte Hennig 1955 nach Deutschland zurück. Seine Heimat im Mansfelder Land ließ er aber hinter sich, ging nach Köln und setzte dort sein Medizinstudium fort. Später arbeitete er als Truppenarzt bei der Bundeswehr. Neben Hennig überlebten noch zwei weitere hallesche Studenten die russischen Lager, vier starben in Sibirien.

Und heute, fast 60 Jahre später, scheint Workuta fast vergessen. Fast. Denn Andre Gursky und sein Team von der Gedenkstätte Roter Ochse mahnen gegen das Vergessen. Am Freitagabend wurde im Beisein des heute 82jährigen Horst Hennig eine Sonderausstellung eröffnet, die das Schicksal der Workuta-Häftlinge noch einmal ins Gedächtnis ruft. Die Wanderausstellung "Workuta" der Kriegsgräberfürsorge Kassel wird hier bis zum 3. Juni gezeigt. Geöffnet ist dienstags bis freitags von 10 bis 16 Uhr. An jedem ersten und dritten Wochenende im Monat ist die Gedenkstätte auch samstags und sonntags von 13-17 Uhr offen. Der Eintritt ist frei.

Dick deckt der Schnee die Dächer düstrer Hütten
In weißen Wällen rahmt er rings den Steg;
Kalt knirscht die Kufe unterm Ochsenschlitten,
der mühsam hinschleicht auf verwehtem Weg.

Still steigt der Rauch empor zum Riesenreigen
Des Nordlichts, das die Dämmerung durchflirrt;
Die Tundra träumt in todesgleichem Schweigen
Vor warmer Sonne, die sie wecken wird.

Kein Laut liegt in der Luft, nur das Geflimmer
Von feinen Flocken fliegt im Lampenschein,
des aus den Fenstern winkt mit weichem Schimmer
wie Heimat, Wärme und Geborgensein.

Uns unsre Sehnsucht wandert durch die Weiten
in Liebe bis zum Vaterhaus;
die wunde Seele weint nach Haß und Streiten
im Mutterschoße ihre Schmerzen aus.
(Siegfried Rockmann in „Workuta überlebt“)