Uniklinik Halle mit virtueller (Cyber-)Therapie

von 14. Dezember 2011

Viele Menschen haben behandlungsbedürftige Ängste. Beispielsweise vermeidet ein Mensch mit Agoraphobie weite Plätze bzw. im weiteren Sinne sämtliche Situationen, wo man bei möglicher Gefahr nicht flüchten kann wie Menschenmengen, volle Kaufhäuser oder öffentliche Verkehrsmittel, ein Mensch mit Akrophobie vermeidet Höhe oder ein Mensch mit Klaustrophobie vermeidet enge Räume wie zum Beispiel Fahrstühle. Die so genannte „Expositionstherapie“ – also die direkte Konfrontation mit der Angstauslösenden Situation oder dem Angstauslösenden Objekt – ist ein klassisches Verfahren der Verhaltenstherapie und stellt ein effektives und häufig angewandtes Therapieverfahren für die Behandlung von Angsterkrankungen dar. Ziel der Behandlung ist eine Verminderung von Angstsymptomen und ein Abbau von Vermeidungsverhalten. Neben den üblicherweise praktizierten Expositionsbehandlungen in der Vorstellung („in sensu“) und in der realen Umwelt („in vivo“) präsentiert sich die „virtuelle Expositionstherapie“ als neues effektives Verfahren.

Hierbei werden Menschen mit Angsterkrankungen in einem virtuellen Labor gezielt mit den Angstauslösenden Reizen in einer so genannten virtuellen Realität konfrontiert. Vorteile der virtuellen Therapie liegen insbesondere in der Vermittlung eines Gefühls von Sicherheit, Privatheit und Vertrautheit, der leichteren „Erreichbarkeit“ von Angst auslösenden Situationen in einer virtuellen statt realen Umgebung und der besseren Kontrolle über die eingesetzten Reize, so dass die Hemmschwelle für eine Expositionstherapie gesenkt und die Behandlung dadurch einer größeren Anzahl an Patienten zugänglich gemacht wird.

Die hallesche Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik ist auf die Behandlung von Angsterkrankungen spezialisiert. Sie unterhält seit der Übernahme der Leitung durch Professor Dr. med. Prof. h. c. Dr. h. c. mult. Andreas Marneros seit etwa 20 Jahren eine Spezialstation und eine Spezialambulanz für Angsterkrankungen. Jetzt wurde im Verlauf der vergangenen zwei Jahre unter der Leitung der Psychiaterin Julia Friedemann und des Informatikers Frank Demel nach Plänen von Professor Marneros ein virtuelles Labor eingerichtet. In Zusammenarbeit mit Hilfswissenschaftlern des Instituts für Informatik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und des Studienganges Multimedia/VR-Design der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle wurden virtuelle Simulationsumgebungen entwickelt, welche bisher die Konfrontation mit den Situationen Hochhaus, Fahrstuhl, Straßenbahn, Kaufhaus mit Warteschlange und Rolltreppe sowie Tunnel mit entsprechenden virtuellen Interaktionsmöglichkeiten über eine Datenbrille (Head-Mounted Display HMD) ermöglichen. Geplant ist die Entwicklung weiterer virtueller Szenarien wie zum Beispiel Brücke etc., um ein breites Spektrum verschiedener virtueller Situationen individuell anbieten zu können.

Über die virtuellen Reize werden – vergleichbar mit der realen Situation – reale Ängste und begleitende körperliche Angstsymptome ausgelöst. Die Kombination von virtueller Therapie mit anschließender Übung „in der Realität“ ist therapeutisch sinnvoll und erwünscht. Während der Durchführung der Behandlung ist stets ein Therapeut anwesend. Es ist vorgesehen, dass während der Behandlung verschiedene physiologische Parameter, darunter Herzfrequenz, Atemfrequenz, Muskelanspannung und Hautwiderstand, erfasst werden. Nach derzeitigem Stand wird die virtuelle Angsttherapie zunächst ausschließlich für stationär behandelte Patienten nach Abschluss einer umfangreichen Diagnostik inklusive körperlicher Untersuchungen angewandt werden.

Die virtuelle Therapie kann nicht eingesetzt werden, wenn ein Alter unter 16 Jahren, eine Schwangerschaft, eine Erkrankung an Epilepsie oder einer Hirnerkrankung, eine akute behandlungsbedürftige somatische Erkrankungen oder eine akute Intoxikation vorliegen. Die ersten Behandlungen werden voraussichtlich ab Januar 2012 erfolgen. Damit ist die Psychiatrische Universitätsklinik Halle eine der ersten Psychiatrischen Kliniken in Deutschland, welche eine virtuelle Angstbehandlung als Ergänzung oder als Alternative zu den herkömmlichen Behandlungsstrategien anbieten wird.