Zwölf neue Stolpersteine in Halle

von 16. Oktober 2011

Wer aufmerksam durch Halle (Saale) geht, sieht sie an vielen Stellen im Stadtgebiet: goldschimmernde Steine mit Namensdaten darauf. Sie sollen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, wovon es auch in der Saalestadt viele gab. Juden, Zeugen Jehovas, Andersdenkende, Homosexuelle oder Kritiker des Regimes wurden auch hier systematisch verfolgt und oftmals ermordet. Besonders getroffen wurde die Jüdische Gemeinde durch das Nazi-Regime. Rund 1,000 Mitglieder gab es noch 1933, nach Kriegsende gerade einmal noch 27.

Am Samstag wurden im Stadtgebiet zwölf neue Stolpersteine verlegt. "Das ist nicht selbstverständlich", merkte Heidi Bohley vom Verein Zeit-Geschichte(n) an. Immerhin wird die Verlegung durch Spenden ermöglicht. "Wir sind dringend auf neue Spenden angewiesen", so Bohley. Schließlich kostet das Material Geld, und die Rohstoffpreise sind in den letzten Monaten gestiegen. 163 Steine wurden in Halle bis jetzt insgesamt verlegt. Doppelt so viele sollen es einmal werden.

Mit einem öffentliches Gedenken am Universitätsring 6 wurde am Samstagvormittag an die Familie Landau erinnert und die neue Verlegung gestartet. Die Germanistin Ingeborg von Lips erzählte über einige Details aus dem Leben der Familie Landau. Die kam 1896 nach Halle in die Talamtstraße/(Mönchshof), wo der Vater nebenan eine Eiergroßhandlung betrieb, und zog dann zwischen 1900 und 1902 in den Uniring. Vor allem der 1903 geborenen Tochter Anneliese widmete sich Frau von Lips in ihrem kurzen Vortrag. Denn anders als Mutter Rosa, Vater Salomon und Tochter Grete überlebte Anneliese den Nationalsozialismus. Kurz nach den Novemberpogromen floh sie über England in die USA. Anneliese hatte in Halle beim damaligen Konzertmeister Musikunterricht erhalten, studierte anschließend an den Unis in Halle und Berlin über ein "urdeutsches Thema", wie Frau von Lips es ausdrückte: "Das einstimmige Kunstlied Conradin Kreutzers und seine Stellung zum zeitgenössischen Lied in Schwaben". Beliebt seien ihre Sendungen im Rundfunk über klassische deutsche Musik gewesen.

Auch in der Geistraße, der Breiten Straße, Landrain, Wielandstraße und Ludwig-Wucherer-Straße wurden Stolpersteine verlegt.

Weitere Informationen zu den verlegten Steinen finden Sie auf Seite 2:
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Breitestraße 33
Hier wohnte Alfred Silberberg
Alfred Silberberg wurde am 7.4.1875 in Halle geboren. Der Besitzer eines Geschäftes für Herrenkonfektion in der Großen Ulrichstraße 29 war zweimal verheiratet. Aus der ersten Ehe mit einer nichtjüdischen Partnerin stammte seine Tochter Erna Kunert geb. Silberberg, die 1899 im Haus Breitestraße 33 geboren wurde. Sie galt bei NS-Ideologen nur als „Halbjüdin“ und war durch die Ehe mit einem nichtjüdischen Partner vor rassistischer Verfolgung relativ geschützt. Als die zweite Ehe des Vaters scheiterte nahm sie ihn in ihrer Familie auf, konnte aber nicht verhindern, dass der Vater gegen ihren Willen in das sogenannte „Judenhaus“ Hindenburgstraße 63 (Haus zerstört, heute Freifläche am Riebeckplatz) ziehen musste. Von dort wurde er am 19./20. September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er 68-jährig am 20.Dezember 1943 zu Tode kam. Seine zweite Ehefrau Selma Silberberg geb. Breuer lebte nach der Scheidung in Aachen und wurde von dort am 22. März 1942 „nach Osten“ deportiert.

Geiststraße 22
Hier wohnte Martha Windmüller verw. Stückgold
Die Jüdin Martha Windmüller wurde am 7.2.1880 in Hannover geboren. Ab etwa 1939 war sie Patientin in der Landesheilanstalt Altscherbitz. Dort wurde die 62-Jährige am 13.Juli 1942 von der Gestapo abgeholt und vermutlich einem Deportationszug zugeteilt, der in einem Ghetto oder Vernichtungslager endete.

Geiststraße 55
Hier wohnte Kurt Just
Kurt Just wurde am 4. Januar 1892 in Halle geboren. Der gelernte Maler hatte wohl ein rebellisches Gemüt, denn von 1919 bis 1922 verbüßte er (wegen Aufruhrs und einer versuchten Gefangenenbefreiung im Zuchthaus ROTER OCHSE) eine dreijährige Zuchthausstrafe. Nach der Pogromnacht am 9.November 1938 wurde er ins Konzentrationslager Buchenwald eingewiesen, später in das KZ Sachsenhausen überführt, aber am 19. Dezember 1938 wieder entlassen. Durch seinen nichtjüdischen Vater galt er den NS-Rassisten als „Halbjude“. Am 2. September 1942 wurde er zu einem Jahr Gefängnis und 40 RM Geldstrafe verurteilt. Begründung: er habe sich geweigert, den Zusatznamen Israel zu führen und den Judenstern zu tragen und stattdessen „unbefugt“ Orden und Ehrenzeichen angelegt. Drei Monate nach der Verurteilung teilte der Vorstand des Zuchthauses ROTER OCHSE der Staatsanwaltschaft Halle mit, dass gemäß eines Erlasses des Justizministers, der Gefangene Kurt Just der Gestapo zur „Weiterleitung in das Konzentrationslager Auschwitz bei Gleiwitz“ übergeben worden sei. In Auschwitz wurde der 34-jährige Kurt Just am 2. Dezember 1942 ermordet.

Landrain 144
Hier wohnte Paul Elkan
Der Kaufmann Paul Elkan wurde am 8.12.1899 in Halle geboren. Er heiratete die nichtjüdische Charlotte Liebau. 1923 wurde Tochter Ruth und 1927 Tochter Edith Inge geboren. Nach der Scheidung lebte Ruth bei der Mutter, Edith Inge beim Vater. Mit dem Vater teilte Edith Inge das Schicksal, im sogenannten „Judenhaus“ Forsterstraße 13 leben zu müssen. In dieser Zeit wurde die 13-Jährige auch freiwilliges Mitglied der Jüdischen Gemeinde Halle. Paul Elkan wurde am 1.Juni 1942 gemeinsam mit 154 weiteren Juden von Halle nach Lublin deportiert. Während der größere Teil der Deportierten ins Vernichtungslager Sobibor weiterfuhr, wurde Paul Elkan einer Gruppe „arbeitsfähiger“ Männer zugeordnet und ins KZ Majdanek geschickt. Dort kam der 42-Jährige drei Monate später, am 17. September 1942 zu Tode. Edith Inge Elkan überlebte. Auf welchem Weg sie in die USA gelangte ist bisher nicht bekannt. Bekannt ist nur, dass sie dort heiratete und einer Tochter das Leben schenkte.

Ludwig-Wucherer-Straße 11
Hier wohnte Hermann Lewit
Der Uhrmacher Hermann Lewit wurde am 20. Juni 1900 in Krakau geboren. Später lebte er in Berlin, Falkenberg und Herzberg. In Herzberg wurde 1935 eine „Schutzhaft“ über ihn verhängt. Nach seiner Entlassung 1936 zog er nach Halle. Aus gesundheitlichen Gründen konnte er die mit der Entlassung ergangene Aufforderung, Deutschland zu verlassen, nicht erfüllen. Am 8. Dezember 1937 wurde er von der Polizei Halle „in Polizeihaft genommen“. Im Juli 1938 brachte man ihn ins Konzentrationslager Buchenwald, wo der 39-Jährige am 19. November 1939 zu Tode kam.

Ludwig-Wucherer-Straße 24
Hier wohnte Hertha Rosenthal
Hertha Rosenthal wurde am 5. Dezember 1891, ebenso wie ihre Schwester Erna (*1889) und ihr Bruder Adolf (*1902) in Halle geboren. Die Geschwister lebten alle zusammen in dem Haus Ludwig-Wucherer-Straße 24. Hier betrieb auch die ältere Schwester Erna einen Konfektionshandel. Hertha arbeitete als Kontoristin und Bruder Adolf war Kaufmann und Bankbeamter. Im Mai 1939 emigrierte Erna Rosenthal nach England. Hertha Rosenthal musste bald darauf ihre Wohnung verlassen und in das „Judenhaus“ Hindenburgstraße 34 (heute Magdeburger Straße 7) ziehen. Dort lebte sie in einer Wohnung mit den bekannten Kaufhausbesitzern Curt und Johanna Lewin. Am 1. Juni 1942 wurden die 50-jährige Hertha Rosenthal, gemeinsam mit dem Ehepaar Lewin (→August-Bebel-Straße 34) und 152 weiteren Juden aus Halle, nach Sobibor bei Lublin deportiert und dort am 3.Juni 1942 mit Gas ermordet. Über das Schicksal ihres Bruders ist bisher nichts bekannt.

Ludwig-Wucherer-Straße 28
Hier wohnte Rosa Salomon geb. Baruch
Rosa Salomon wurde am 11. Februar 1900 als Rosa Baruch im damals westpreußischen Schönsee (heute Kowalewo/Polen) geboren. In Halle arbeitete sie als Hausangestellte in der Villa des jüdischen Viehhändlers Moritz Schloß (→ Rudolf-Ernst-Weise-Straße 20). Als die NS-Rassegesetze sie zwangen, ihre Wohnung aufzugeben, wohnte sie zeitweilig am Harz 48 und in der Familienvilla Schloß. Am 1.Juni 1942 wurde sie von dort gemeinsam Fanny Aronsohn (→ Lafontainestraße 5), dem Ehepaar Weiß (→ Puschkinstraße 30) und der Familie Oppenheim (→ Magdeburger Straße 28), die ebenfalls in der Schloß-Villa Zuflucht gefunden hatten, nach Sobibor bei Lublin deportiert und am 3.Juni 1942 mit Gas ermordet. Über das Schicksal ihres Mannes Kurt und ihrer Tochter Hannelore (*1932) ist bisher nichts bekannt.

Ludwig-Wucherer-Straße 45
Hier wohnten Jakob Rautenberg
Käte Rautenberg geb. Jacobsohn
Jakob Rautenberg wurde am 29. März 1880 im damals westpreußischen Lautenburg (heute Lidzbark/Polen), Käte Rautenberg geb. Jacobsohn am 6. Januar 1890 im damals ebenfalls westpreußischen Schwetz (heute Swiecie/Polen) geboren. Die Rautenbergs besaßen in Halle eine Krawattenfabrik und den „Herrenausstatter“, Große Steinstraße 5. Im Jahr der Pogromnacht 1938 wurde Jakob Rautenberg im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert, konnte aber am 16. Dezember 1938 zu seiner Familie nach Halle zurückkehren. Im folgenden Jahr schickten die Eltern ihre Kinder Gerda (*1920) und Siegfried (*1922) nach Manchester/England und retteten so ihr Leben. Sie selbst mussten bald darauf ihre Wohnung verlassen und in das „Judenhaus“ Hindenburgstraße 34 (heute Magdeburger Straße 7) ziehen. Am 1. Juni 1942 wurden der 62-jährige Jakob Rautenberg und seine 52-jährige Frau Käte gemeinsam mit 153 weiteren Juden aus Halle nach Sobibor bei Lublin deportiert und dort am 3.Juni 1942 mit Gas ermordet. Im selben Transport befand sich auch Kätes Schwester Adele mit ihrem Mann Cäsar Salomon (→Harz18). Tochter Gerda starb 1992 in London. Sohn Siegfried lebt in den USA. Enkel und Urenkel leben heute in England, den USA, Kanada und Neuseeland.

Universitätsring 6
Hier wohnten Salomon M. Landau
Rosa Landau geb. Sadger
Grete Paechter geb. Landau
Salomon Mendel Landau wurde am 25.10.1864 im damals österreichischen Neu Sandez/Galizien (heute Nowy Sacz/Polen) geboren. Rosa Landau geb. Sadger kam am 29.12.1873 in Krakau zur Welt.
Mit elterlicher Genehmigung nahm Rosa Sadger ein Musikstudium am Wiener Konservatorium, u.a. bei dem berühmten Eduard Hanslick, auf. In Wien lernte sie auch ihren künftigen Ehemann kennen. 1896 zog das Paar nach Halle in die Talamtstraße 6, wo Salomon Landau, Sami genannt, die Spezial-Eier-Großhandlung seines Bruders im Nebenhaus übernahm. Sie zogen noch zweimal um und wohnten zuletzt im Haus Universitätsring 6. In Halle wurden auch ihre drei Kinder geboren – Grete am 26.2.1898, Anneliese am 5.3.1903 und Kurt, der in jungen Jahren tödlich verunglückte.
Die Landaus waren eine liberal eingestellte Familie, in der Musik eine große Rolle spielte. Abendliche Hauskonzerte und häufige Besuche des Leipziger Gewandhauses standen im Zentrum des Interesses. Die Eltern waren Mitglieder im “B’nai-B’rith-Orden” und der Germania-Loge in Halle, wo sich später auch Tochter Anneliese engagierte und einen ihrer ersten öffentlichen Vorträge hielt. Anneliese erhielt bei ihrer Mutter Klavierunterricht, spielte Geige und studierte in Halle und Berlin Musikwissenschaft. Sie war musikschriftstellerisch tätig, gestaltete eine Vortragsreihe im Radio und arbeitete lange für den von Martin Buber, Leo Baeck u.a. gegründeten Jüdischen Kulturverein. Wie bei vielen Intellektuellen begann durch die feindselige politische Lage und den wachsenden Druck der Nationalsozialisten auch bei Anneliese Landau eine Rückbesinnung auf die eigenen jüdischen Wurzeln und das Interesse für spezifisch jüdische Musik. So entstanden ihre auch heute noch interessierenden Aufsätze z.B. über die Musik von Jacques Offenbach.
Grete heiratete den Juristen Curt Julius Paechter, Leiter der Rechtsabteilung der Deutschen Bank und zog zu ihm nach Berlin. Auch ihre Kinder Hans (* 1925), Gert (* 1928) und Lise Ruth (* 1933) kamen in Berlin zur Welt. Die Verhaftung von Curt Paechter nach dem Novemberpogrom 1938 ließ die Familie das Ausmaß der Gefahr erkennen. Es gelang, die drei Paechter-Kinder mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Die Eltern Landau verließen Halle und zogen zu Grete nach Berlin. Anneliese Landau verließ Deutschland am 19. April 1939. In England traf sie ihre Neffen und die Nichte wieder, die bei englischen Familien untergebracht waren. Am 1. Januar 1940 erreichte sie New York. Alle Bemühungen von dort, die Ausreise ihrer Familie zu erreichen, waren erfolglos. Durch Zwangsarbeit geschwächt, erkrankte die 43-jährige Grete Paechter und starb am 31.Dezember 1941 in Berlin. Am 3.Oktober 1942 wurde das Ehepaar Landau (vermutlich gemeinsam mit dem Schwiegersohn) nach Theresienstadt deportiert. Hier starben der 78-jährige Salomon Landau am 13. Juni 1943 und Rosa Landau kurz vor ihrem 71.Geburtstag am 21.Dezember 1944. Curt Paechter wurde (nach Angaben seiner Schwägerin Anneliese) von Theresienstadt weiter nach Bergen-Belsen deportiert. Im April 1945, als Bergen-Belsen von britischen Truppen befreit wurde, gehörte er zu den todkranken Häftlingen, für die alle Hilfe zu spät kam. Er starb 52-jährig am 31. Dezember 1945. Der ihm gewidmete STOLPERSTEIN vor seinem Berliner Haus, Nassauische Straße 61 trägt abweichende Daten, die wohl aufgrund einer Verwechslung durch die Berliner Initiatoren zustande kamen.
Anneliese Landau wurde ab 1944 Musikdirektorin der Jewish Center Association in Kalifornien. Sie organisierte Konzerte, hielt Vorträge, publizierte und erarbeitete ein Bildungsprogramm, das sie später an verschiedenen Erwachsenenschulen verwirklichte. Sie starb 88-jährig am 3. Aug. 1991 in Los Angeles.

Wielandstraße 12
Hier wohnte Seraphine Lavoipiere geb. Davidsohn
Seraphine Lavoipiere wurde am 12. November 1871 im schlesischen Schrimm an der Warthe (heute Srem/Polen) geboren. Nachdem die nationalsozialistischen „Rassegesetze“ Juden und „Ariern“ verboten unter einem Dach zu wohnen, musste die Witwe ihre Wohnung verlassen und nach zeitweiligem Aufenthalt in sogenannten „Judenhäusern“ in ein angebliches „Altersheim“ ziehen, das sich auf dem Grundstück des Jüdischen Friedhofs Dessauer Straße 24 (damals Boelckestraße) befand. In Wahrheit war hier auf Anordnung der NS-Behörden ein Sammellager entstanden, in dem die Menschen bis zu ihrer Deportation auf engstem Raum zusammengepfercht leben mussten. Am 19.September 1942 wurde Frau Lavoipiere zusammen mit 72 weiteren jüdischen Hallensern ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort starb die 72-Jährige am 3.Februar 1943.

Quellen:
The Central Database of Shoah Victims' Names www.yadvashem.org
Hirschinger, Frank: „Zur Ausmerzung freigegeben“ – Halle und die Landesheilanstalt Altscherbitz 1933-1945 Köln: Böhlau, 2001
Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit www.lexm.uni-hamburg.de
Lips, Ingeborg von (Hg.), Kein falsches Bild. Deutsch-jüdische Literatur und eine Universitätsstadt Halle (Saale), mdv , 2011
Winkelmann, Volkhard und ehemaliges Schülerprojekt "Juden in Halle" des Südstadt-Gymnasiums Halle: Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle, 3. Auflage (2008) www.gedenkbuch.halle.de