Abderhalden: Rassist oder ehrenwerter Lügner?

von 28. Juli 2015

Gras schien zu wachsen, doch dann erschütterte im Dezember 2013 eine Privatinitiative die Stadt. „Interfakultäre professorale Initiative zur Umbenennung der Emil-Abderhalden-Straße“ war ein dreiseitiges Papier überschrieben, in dessen Präambel die Unterzeichner erklärten, „absehbaren Schaden von der Universität abzuwenden“, um ihn in der dann folgenden „Resolution“ als Nazi in die Nähe von KZ-Arzt Josef Mengele zu rücken, der Juden wie Albert Einstein aus der Leopoldina ausschloss und Rassenhygieniker aufnahm, und als Stümper und Blender zu diskreditieren, der seine widerlegten wissenschaftlichen Erkenntnisse über „sein Netzwerk“ gegen Zweifler faktisch als Gesetz erhielt. Anlass für die Attacke zum Jahresende 2013 mit schweren Vorwürfen war der Baubeginn des neuen Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Zentrums, welches sich wie die alten Fakultätsgebäude der Politologen und Soziologen an der Emil-Abderhalden-Straße befindet. Am 28. Juli 2015 hat sich die Leopoldina zu den Vorwürfen geäußert und die Ambivalenz der Person Abderhalden festgestellt.

Die Leopoldina stellte die „Bemerkungen zur wissenschaftshistorischen Einordnung des früheren Leopoldina-Präsidenten Emil Abderhalden“, verfasst von Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch, vor. Es handelt sich, so hieß es dazu, um eine vorgezogene Veröffentlichung aus dem Forschungsprojekt zur „Geschichte der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Vom Bruch ist Wissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin. „Die Ergebnisse des Gesamtforschungsprojekts werden in absehbarer Zeit als Monographie veröffentlicht“, erklärte die Leopoldina weiter. „Zum Untersuchungsgegenstand des Forschungsprojekts gehört auch die Tätigkeit des Schweizer Physiologen Emil Abderhalden als Präsident der Leopoldina zwischen 1932 und 1950.“

Die Leopoldina ordnet Abderhalden allgemein als schweizerisch-deutschen Biologen und Mediziner sowie Mitbegründer der Proteinbiochemie ein, der ab 1911 eine Professor für physiologische Chemie und Physiologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Halle inne hatte und von 1932 bis 1950 Präsident der Leopoldina war. „Seine Forschungsschwerpunkte lagen in der Analyse von Proteinen. 1950 benannte die Stadt Halle eine Straße nach ihm, unter anderem wohl wegen Abderhaldens Bemühungen in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, die Kindersterblichkeit in Halle zu senken und die Ernährungslage der Bewohner Halles zu verbessern. Abderhaldens Rolle als Leopoldina-Präsident in der NS-Zeit, unter anderem die Streichung jüdischer Mitglieder aus dem Mitgliederverzeichnis 1938 als Tiefpunkt in der Geschichte der Akademie, hat zu Anträgen an die Stadt Halle geführt, die Emil-Abderhalden-Straße umzubenennen. Die Umbenennung einer Straße ist eine Ermessensentscheidung der Stadt.“

Nach Ansicht von Wieland Berg ist belegbar, dass Abderhaldens Brief zur Streichung jüdischer Mitglieder der Leopoldina „eine ehrenwerte Lüge“ war, die es der Leopoldina ermöglichte, ohne weitere Eingriffe des NS-Regimes weiter zu arbeiten. Berg war seit 1990 in der Arbeitsgruppe zur neueren Geschichte der Leopoldina tätig, die er bis 1994 leitete. Das erste Teilprojekt „Leopoldinageschichte 1932-1954“ lief in den Jahren 1992 bis 1997.

Wortführer der Professorenschrift gegen Abderhalden war der Politologe Johannes Varwick. Von ihm vernahm man den Vorwurf, Abderhalden sein ein Rassist gewesen und ganz sicher kein Vorbild. Zu den Erstunterzeichnern des Anti-Abderhalden, der inhaltlich identisch mit dem 2010 von den Grünen vorgelegten Antrag ist, gehörten auch die Professoren Gunnar Brands (Archäologe), Thomas Hauschild (Ethnologe), Ingo Pies (Wirtschaftsethiker) und Giuseppe Veltri (Judaist). Die meisten der weiteren 40 Unterzeichner sind Sozialwissenschaftler. Etliche Unterschriften stammen auch vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Halle, der Name von Landesamtschef Harald Meller war dort jedoch nicht zu lesen. Der für Rassismusvorwürfe besonders sensible Zeitgeschichten-Verein in Halle, der sich nicht zuletzt mit der NS-Zeit kritisch auseinandergesetzt hat, widersprach dem Pauschalurteil und plädierte für eine exaktere Betrachtung der historischen Quellen.

Auf der Seite „Bonjour Tristesse“, die sich mit etlichen, wenig schmeichelhaften Beiträgen zu Halle immer wieder zu Wort meldet, hat sich Knut Germar des Themas angenommen und die Professoren-Attacke als „tendenziöses Konvolut von Halbwahrheiten“ abgebügelt. Schließlich kommt der Autor nach langen Ausführungen seinem persönlichen Fazit, dass Abderhalden „ein ganz normaler Deutscher“ war.

Papier der Professoren

http://www.johannes-varwick.de/rauf/initiative-zur-umbenennung-abderhaldenstr-23102013.pdf

die Dokumentation des Zeitgeschichten-Vereins zum Streit um Abderhalden

http://www.zeit-geschichten.de/abderhalden.html

„ehrenwerte Lüge“

http://www.zeit-geschichten.de/visuals/Vorbemerkung%20zu_Eine%20ehrenwerte%20Luege.pdf

Beitrag auf Bonjour Tristesse

https://bonjourtristesse.wordpress.com/2015/03/30/im-einklang-mit-der-zeit-anmerkungen-zum-streit-um-emil-abderhalden/