Im Wunderland der Phantasie

von 19. Juni 2012

Neben dem Ballett Rossa in Halle und der Gonzalo Galgueras Truppe in Magdeburg hat sich in Dessau über viele Jahre hin die dritte, leistungsstrake Ballett-Truppe in Sachsen-Anhalt etabliert. Auch der jetzige Ballettdirektor der Landeshauptstadt prägte einige Jahre die Tanzsparte des Anhaltischen Theaters. Unter wechselnden Choreographen und trotz immer knapper werdender Kassen. Stets aber mit eigenem Profil.Als Tomasz Kajdanksi von Eisenach nach Dessau kam, musste er also nicht bei Null anfangen, sondern konnte auf eine gute Tradition aufbauen und eigene Akzente setzen. Dabei versteht er sich auf die ehrgeizige, anspruchsvolle Herausforderung (Lulu, Nachtasyl), genauso wie auf die große Show. Seine Nibelungenversion (Siegfriedsaga) zu einem musikalischen Ring-Querschnitt war zugleich das musikalische Aufwärmen der Anhaltischen Philharmonie für Wagners Tetralogie, bei der die Dessauer mit der Götterdämmerung ja ernst machen. Und auch, wenn Kajdanksi das Publikum vor allem unterhalten will, ist das intelligent gemacht. Seine Version von „Alice im Wunderland“ ist so ein Tanzvergnügen für die ganze Familie. Und das ist keineswegs despektierlich gemeint. Denn zu den Qualitätsmerkmalen von Kajdankis Kreationen gehört eine kenntnisreiche und durchdachte Musikauswahl. Auch diesmal, zumal das Orchester im Graben sitzt und unter Leitung von Wolfgang Kluge mit Schwung und Lust bei der Sache ist.Nun gehört Lewis Carrolls berühmte Geschichte, seit sie 1865 das erste Mal erschien, zu den erfolgreichsten Erbstücken aus dem victorianischen England für die ganze Welt. Die Liste der Übersetzungen und Filmadaptionen ist ellenlang – im Grunde kann niemand den Abenteuern ausweichen und muss, früher oder später, dem weißen Kaninchen, der Grinsekatze, Hampty und Dumpty oder der Kartenspiel Königin über den Weg laufen und all diese Figuren mit den Augen der träumenden Alice bestaunen.Ausstatter Dorin Gal hat das gesamte Wunderland-Personal nicht nur mit witzig phantasievollen Kostümen ausgestattet, sondern auch eine Bühne gebaut, die im Hintergrund mit den ziemlich gut gemachten Videos von Enrico Mazzi eine zusätzliche Traum- und Assoziations-Dimension eröffnet. Der bunte, sportiv und  erzählend ertanzte Bilderbogen beginnt im Kinderzimmer der kleinen Alice. Die Uhr zeigt auf Fünf vor Zwölf. Ungelöste Hausaufgaben schwirren durch den Raum, Gestalten ohne Kopf mit eckigen Körpern erscheinen. Was wie von Erwin Wurm beigesteuert aussieht, könnten gut die Eltern oder Lehrer sein, die nicht wirklich für Alice da, also kopflos sind. Bis das weiße Kaninchen auftaucht und die (Flucht-)Reise ins (Traum-)Wunderland mit einen entschlossenen Sprung durch die Wand beginnt.Die Wände verschwinden dann sowieso und wir lernen, nach und nach, in den insgesamt 17 Bildern und in knapp zwei Stunden, das ganze Personal kennen. Nach der Pause dann auch die böse, eigentlich aber eher kapriziöse Königin, mit ihrem Hang zum Köpfen lassen. Am Ende, wenn der von Joe Monaghan mit virtuoser Grazie und Beweglichkeit porträtierte Hutmacher nach einem Riesentumult sowohl seinen Kopf als auch seinen monströsen Hut weiter da behalten darf, wo er hingehört, verschwindet diese Traumwelt wieder. Da entpuppt sich bei Kajdanski das Kinderzimmer als Ballettsaal und die Traumgestalten als Vorlage für den Wunsch des Mädchens nach der großen Bühne. Vielleicht als Tänzerin. Mit dieser Pointe und der Botschaft, dass alles Theater auch ein Kindertraum ist, schließt sich der Kreis, dieser musikalisch klug begleiteten Traum-Tänzerei.Für den inneren Rhythmus, den Wechsel zwischen verträumter Reflexion und dramatische Zuspitzung sorgt die sich nicht anbiedernde, aber effektvolle Musikcollage aus Werken von Charles Ives, Claude Debussy, Georges Biszet, Maurice Ravel, Jacques Ibert, Jules Massenet, Emmanuel Chabrier, Erik Satie, Camille Sain-Saens und Jaques Offenbach. Dieser frankophone Mix hat aber nichts esoterisches, sondern ist so ausgewählt, als wäre er für „Alice im Wunderland“ komponiert. Immer die mädchenhaft, traumleicht tanzende Laura Costa Chaud als Alice im Blick, freut man sich über jedes witzige Auftauchen von Juan Pablo Lastras-Sanchez als weißes Kaninchen im Schottenrock, auf die großäugige Raupe von Jonathan Augereau, den faszinierenden Hutmacher, die so herrlich zickige Königin von Anna-Maria Tasarz, die Grinsekatze, die Kartenarmee und all die anderen. So wie Charlie Debons quietschgelbe Köchin mit Sturmfrisur natürlich nicht kochen kann, so ertanzen sie in Dessau (mit typischer Alice–Logik) alle zusammen ein wunderbares, märchenhaft erzähltes, für jeden bekömmliches Wunderland-Menü! Was natürlich ausführlich bejubelt wurde.