Kontroverse Schau in der Moritzburg eröffnet

von 3. April 2011

Ein aufgeschlitzter Hirsch, die Abbildung einer abgetrennten Hand – eine außergewöhnliche und kontroverse Ausstellung hat am Samstagnachmittag in der Moritzburg in Halle (Saale) eröffnet. “Ekel-Schau” stand bereits für die "Bild"-Zeitung fest. Noch bevor die Ausstellung eröffnete, protestierte bereits CDU-Stadtrat Werner Misch vor der Moritzburg. Eltern sollen die Ausstellung "Mysterium Leib" lieber erstmal ohne Kinder besuchen, meint er, und danach entscheiden, ob die Kleinen den Kunstwerken gewachsen sind.

Aber was ist das für eine Ausstellung, die da gezeigt wird? Die Moritzburg hat die flämische Künstlerin Berlinde De Bruyckere geholt. Sie hat eigens für die Ausstellung im Kunstmuseum drei lebensgroße Arbeiten geschaffen. Diese Werke werden zum ersten Mal überhaupt gezeigt. Und sie sollen, so heißt es, in einem Dialog mit Lucas Cranach und Pier Paolo Pasolini präsentiert werden. Vor Tabuthemen wie Tod, Folter und Verletzung wird nicht halt gemacht. Ob auf Altarbildern in der Kirche oder zuletzt im Fernsehen bei der Katastrophe von Japan, sind wir eigentlich immer wieder solchen Bildern ausgesetzt, wenn auch meist unbewusst.

In der Ausstellung der Stiftung Moritzburg werden von der 1964 geborenen Künstlerin eine Figur aus der Serie "Schmerzensmann" von 2006, die bisher kaum gezeigt wurde, und das 2010 entstandene Werk "Romeu" zu sehen sein, sowie drei weitere, eigens für diese Ausstellung entwickelte lebensgroße Arbeiten. In diesen Skulpturen aus farbig eingelegtem Wachs ist die Anmutung realer Körper sehr präsent, denn die Künstlerin arbeitet mit Abformungen von natürlichen Körpern, deren Oberflächendetails in das Wachs übertragen werden.

Ihrem Werk gegenübergestellt wird ein meisterhaftes Gemälde von Lucas Cranach d. Ä., der "Schmerzensmann" (um 1535) aus dem Besitz der Kirchengemeinde Wörlitz, das einem breiteren Publikum kaum bekannt sein dürfte, sowie ein Film von Pier Paolo Pasolini, Il Vangelo secondo Matteo/Das Erste Evangelium – Matthäus. Mit Lucas Cranach d. Ä. verbindet die Künstlerin die Reflektion über die Verwundbarkeit des Leibes, mit den Bildern aus Filmen Pasolinis teilt sie die Auffassung vom Körper als Ausdruck einer bis in den Mythos reichenden Wirklichkeit. In diesem Spannungsfeld thematisiert die Ausstellung in einem Epochen und Medien überspannenden Dialog Berlinde De Bruyckeres radikales und tief berührendes Schaffen vor dem Hintergrund der hochaktuellen Frage nach der Leiblichkeit des Menschen.

Der Künstlerin geht es dabei nicht um die Hyperrealisierung des Körpers oder die täuschende Nachahmung von Natur. Es ist das Thema der Verwundung und der Verwandlung, das ihre Skulpturen zum Ausdruck bringen, denen jedes „sprechende" Element des Körpers – sei es Kopf, Blick, Gestik oder Attribut – fehlt. Aus verschiedenen Teilen zusammengefügt, gehen Formen unterschiedlicher Lebewesen miteinander Metamorphosen ein. Die Verletzlichkeit des Körpers drückt sich dabei ebenso aus wie die Ungewissheit über Körpergrenzen.

An dieser Stelle trifft sich Berlinde De Bruyckeres Werk mit einem Werk wie Lucas Cranachs "Schmerzensmann", ein so genanntes "Erbärmdebild" aus der Zeit der Reformation. Die auf ihrem geöffneten Grab sitzende Gestalt des mit den Insignien der Passion versehenen Christus ist eine zwischen Realität und Glauben angesiedelte Figur. Seine Seitenwunde, Zeichen seiner Leiblichkeit, öffnet sich nicht in einen organisch verstandenen Körper, sondern in den spirituellen Körper der Glaubensgestalt. Berlinde De Bruyckeres "Schmerzensmann V", der Morphologie der Kreuzigungsbilder folgend, zitiert – halb entleerte Hülle, halb Bild des leidenden Menschen – das Bild des Gekreuzigten, das im Abendland über Jahrhunderte hinweg Grundlage eines Menschenbildes war, in dem Leid und Tod einen Sinn hatten, und spricht zugleich die Leere aus, die der Verlust dieses Bildes bedeuten würde. Wurde einst dem Leiden, den Wunden und dem Tod durch die Religion eine göttliche Sinngebung beigemessen, so hat sich das Selbstverständnis des Menschen mit dem zunehmenden Glaubensverlust in seine eigene Verantwortung verlagert. Berlinde De Bruyckere lässt durch die Präsenz ihrer Skulpturen die Körper des Leidens zu einer aktuellen Frage an unsere Zeit, an ihr Bild vom Menschen und ihre Auffassung von Menschlichkeit werden.

Pasolinis Film "Il Vangelo secondo Matteo", ein Werk, das üblicherweise eher im anspruchsvollen Programmkino als im Museum zu sehen ist, markiert in diesem Zusammenhang eine dritte, existentielle und politische Position. Pasolinis Sicht auf die Gestalt Christi in ihrer radikalen und damit "göttlichen" Menschlichkeit, wie er sie in seinem – dem ältesten der Evangelien wörtlich folgenden – Film zeigt, wird in der Konstellation der Ausstellung einmal mehr provozierend aktuell. Der Film tritt als Kunstwerk den Werken von De Bruyckere und Cranach gegenüber und entfaltet durch das ungewöhnliche Zusammenspiel im Kontext einer Ausstellung seine Bildkraft. Im Begleitprogramm zur Ausstellung vertieft eine Reihe ausgewählter Filme von Pasolini, die das Körperliche als eine bis in archaische Tiefen reichende menschliche Gegebenheit befragen, diese Position.

Das Buch zur Ausstellung, das gemeinsam mit Berlinde De Bruyckere erarbeitet und von Cyan (Berlin) gestaltet wurde, ist mehr als ein Ausstellungskatalog. In einem Bild-Essay begegnen sich die drei Künstler visuell mit ihren zentralen Themen und ästhetischen Formulierungen in dichten, assoziativen Bildsequenzen, während die Textbeiträge reflektierend unter anderem auch die Rolle des Leidens in der Philosophie der Moderne berühren, in deren Kontext sich die Ausstellung sieht.

Ausstellung und Buch machen deutlich, dass unter verschiedenen historischen Bedingungen entstandene Kunstwerke ein aktuelles ästhetisches und kritisches Potential für die Gegenwart bereithalten, wenn sie nicht nur als Zeugnisse der Vergangenheit, als in der Kunstgeschichte abgelegtes Inventar verstanden, sondern auf ihren Gehalt hin aus der Gegenwart heraus befragt und betrachtet werden.