Das Interview führte Keven Nau
Keven Nau: Nimmt der Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft immer mehr zu?
Matthias Quent: Rechtsextremismus wird öffentlich häufig erst wahrgenommen, wenn er mit Gewalt oder durch spektakuläre Provokationen in das öffentliche Bewusstsein drängt. Der Rechtsextremismus ist auch ein Produkt ungelöster gesellschaftlicher Konflikte und Widersprüche und indiziert, dass es unserer Gesellschaft längst nicht gelungen ist, die demokratischen Versprechen von Gleichheit und Diskriminierungslosigkeit umzusetzen. Rechtsextremismus wird häufig verharmlost oder ignoriert, weil er einerseits ein Symptom gesellschaftlicher Widersprüche ist und andererseits die Grundfeste unserer Gesellschaft infrage stellt. Dies geschieht am offensten, wenn Menschen angegriffen und Häuser angezündet werden. In den letzten Monaten ist die Zahl rechtsextremer Gewalttaten bundesweit explodiert. Durch die steigende Gewalt sowie durch die Präsenz bestimmter rechtsextremer Narrative im politischen Diskurs, u.a. durch Pegida und die AfD, wird das rechtsextreme Potenzial in Deutschland nun sichtbarer. Insofern hängt die Beantwortung der Frage davon ab, was wir als Rechtsextremismus bezeichnen. In jedem Fall wird er zurzeit offensiver, politisch aggressiver artikuliert und dadurch sichtbarer.
Keven Nau: In den letzten Wochen gab es zahlreiche Kritik – auch aus der Politik – gegen Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen. Ist das der Beginn für Rassismus in unserer Gesellschaft?
Matthias Quent: Nein. Rassismus gibt es schon lange. Der Schriftsteller und Soziologe Albert Memmi definiert Rassismus als verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Vorteil des Anklägers und zum Nachteil seines Opfers. Für diese Funktion braucht es die Pseudolehre der Rassentheorie nicht. Heute dienen immer mehr die Schlagworte Kultur oder Religion dazu, abgewertete Außengruppen zu kennzeichnen. Der Rassismus erlebt aktuell ein Comeback über Fremdgruppenzuschreibungen und Pauschalisierungen wie die Muslime oder die Flüchtlinge.
Keven Nau: Ist der Rechtsextremismus ein typisches Problem in Ostdeutschland?
Matthias Quent: Auch vor der Wiedervereinigung gab es in der Bundesrepublik Rassismus, Antisemitismus und rechtsextremen Terror. Gleichzeitig sind seit Jahren die Wahlergebnisse rechtsextremer Parteien sowie rechtsextreme Gewalttaten in den neuen Bundesländern überproportional hoch. Vielerorts ist im Osten die politische Kultur nur mangelhaft demokratisiert. Außerdem sind die sozioökonomischen Ungleichheiten auch noch 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer im Osten stärker. Das kann zu Wahrnehmung des Abgehängtseins, zu Unzufriedenheit, zu Frustration und dann auch zu einer Politisierung durch rechtspopulistische oder rechtsextreme Politikangebote führen. Davor sind aber auch abdriftende Regionen in Westdeutschland nicht gefeit. Außerdem muss Unzufriedenheit nicht in den Rechtsextremismus führen, wenn alternative Deutungsangebote vor Ort abrufbar sind.
Keven Nau: Welche Unterschiede gibt es zwischen Ost- und West-Deutschland?
Matthias Quent: Bezogen auf den Rechtsextremismus sticht derzeit hervor, dass es rechten Demagogen in den neuen Bundesländern viel stärker gelingt, verunsicherte Menschen zu Protesten zu mobilisieren. Was derzeit beispielsweise in Dresden, Plauen und Erfurt geschieht, ist in den alten Bundesländern kaum vorstellbar. In Ostdeutschland findet zudem, wie gesagt, deutlich mehr rechtsextrem motivierte Gewalt statt. Auch die rechtspopulistische AfD und die rechtsextreme NPD finden im Osten mehr Wähler. All das indiziert eine größere Bereitschaft in den neuen Bundesländern, rassistische Einstellungen in entsprechende Handlungen umzusetzen.
Keven Nau: Weshalb sind die Zahlen rechtsextremer Straftaten im Osten deutlich höher als im Westen? Woran liegt das?
Matthias Quent: Anders als im Westen waren konventionelle Politikformen und Mitgliederorganisationen nie die Sache der Rechtsextremen im Osten. Schon in der DDR waren Neonazis quasi im Untergrund und sehr gewalttätig. Das setzte sich nach der Wende fort, weil sie sich als Vollstrecker einer Mehrheitsmeinung und dadurch zur Anwendung von Gewalt legitimiert sahen. Die gewachsene Bewegungsförmigkeit des ostdeutschen Rechtsextremismus legt gewalttätige Aktionen als massenhafte Aktionsform eher nahe als die traditionellen Mitglieder- und Kaderorganisationen im Westen.
Keven Nau: In den letzter Zeit gab es gerade in ländlichen Regionen viele rechtsextreme Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Gibt es ein Stadt-Land-Gefälle?
Matthias Quent: Ja. Häufig sind gerade ländliche Regionen vom Abbau der Infrastruktur, von Abwanderung und Vergreisung geprägt. Dadurch können sich Bewohner solcher Regionen als im Stich gelassen wahrnehmen. Im Kontrast zu urbanen Gegenden gibt es weniger politische, kulturelle und ethnische Vielfalt, sodass es reaktionäre politische Einstellungen und Akteure leichter haben können, auf Zustimmung zu stoßen. Die Gegenwehr aus der Zivilgesellschaft ist in der Regel ebenfalls schwächer. Rechtsextreme Jugendcliquen dominieren in manchen Dörfern seit 20 Jahren die Szenerie. Wenn in solchen Regionen nun Geflüchtete untergebracht werden sollen, kann sich ein rechtsextremes Gewaltpotenzial herausgefordert fühlen, das sich mancherorts bisher ungestört etablieren konnte.
Keven Nau: Welches Problem sehen Sie darin, Rechts- mit Linksextremismus gleichzusetzen?
Matthias Quent: Warum sprechen wir von Linksextremisten, wenn es doch um Gewalt gegen Flüchtlinge geht? Es ist ein großes Problem in der öffentlichen Debatte hierzulande, dass viele meinen, von Rechtsextremismus nur sprechen zu können, wenn gleichzeitig der Linksextremismus genannt wird. Die Parallelisierung von linker und rechter Gewalt halte ich in dieser Debatte für wenig hilfreich. Sie verweist aber auf ein wichtiges Problem: Was als extremistisch gilt, ist höchst umstritten. Extremismus kann leicht als Kampfbegriff instrumentalisiert werden. Was als linke oder rechte Gewalt gilt, entscheiden letztlich die Innenminister. Es gibt anders als in anderen Staaten keine einheitliche unabhängige und oder nach wissenschaftlichen Kriterien standardisierte Erfassung. Generell ist die Dunkelziffer im Bereich politisch motivierter rechter Gewalt sehr hoch.
Keven Nau: “Asylbewerber nehmen Deutschen den Job weg”, diese und andere Äußerungen werden in letzter Zeit immer mehr in der Öffentlichkeit. Woher kommen diese Vorurteile?
Matthias Quent: Dem liegt letztlich ein Konkurrenzdenken zugrunde, das unsere Gesellschaft prägt und Verlustängste hervorruft. Problematisch wird es dort, wo Menschengruppen gegeneinander ausgespielt werden. Chancengleichheit gehört zu den Grundpfeilern unserer Gesellschaft. Wer meint, dass seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlechter sind als die von Migranten, die sprachlich und rechtlich beeinträchtigt sind, will damit wohl vor allem eigene Defizite verschleiern. Allerdings steckt hinter dieser Parole eine ernste Herausforderung für die kommenden Monate und Jahre: Migranten dürfen von Arbeitgebern und von der Politik nicht als Instrument zum Lohndumping missbraucht werden. Wenn beispielsweise der Mindestlohn für Geflüchtete ausgesetzt wird, kann aus der Parole Realität werden, weil sich die abhängig Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt gegenseitig unterbieten. Statt miteinander in Konkurrenz zu treten, sollten die deutschen und zugewanderten potentiellen Arbeitnehmer auf Chancen- und Lohngleichheit für alle bestehen. Hilfreich wäre eine Flüchtlingsgewerkschaft, die die Interessen der Geflüchteten auf dem Arbeitsmarkt vertritt und sich im Interesse aller Lohnabhängigen für faire und gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit einsetzt egal wo der Arbeitnehmer geboren ist.
Keven Nau: Was muss Ihrer Meinung nach dem Rassismus gegen Flüchtlinge entgegengesetzt werden? Wie schaffen wir in der Gesellschaft ein Umdenken?
Matthias Quent: Ein Umdenken allein wird nicht reichen. Es ist vor allem eine Herausforderung, Antworten auf die Ursachen und Auslöser von Benachteiligungserfahrungen, von Frustration und Gewaltbereitschaft im sozialen, politischen und ökonomischen Bereich zu finden und entsprechend politisch zu handeln. Rassismus entsteht aus dem Bedürfnis der Rassisten, sich durch die Abwertung von Anderen aufzuwerten. Ich bin der Überzeugung, dass ein großer Teil der Sorgen und Ängste, die derzeit auf die Flüchtlinge projiziert werden, ihren tieferen Ursprung haben in einer generalisierten Zukunfts- und Abstiegsangst in Teilen der Bevölkerung. Angesichts der weiten Verbreitung von prekären Beschäftigungsverhältnissen, der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrisen und den militärischen Konflikten weltweit sind diese Ängste nicht überraschend, sondern natürlich. Die Flüchtlinge verkörpern Unsicherheit und Vulnerabilität direkt in unserer Nachbarschaft und fungieren auch deswegen als Ventil. So lange die eigentlichen Ursprünge der Verunsicherung nicht angegangen werden, wird auch der Rassismus sein Publikum finden.
Herr Quent, vielen Dank für das Interview.