Mundgebissener Abgang

von 4. Oktober 2010

„Fiddler on the Roof“ – der Geiger auf dem Dach. Das ist Titel der Operette – oder, amerikanisch, "Musical“ von Jerry Bock, uraufgeführt 1964 am Broadway.

Handlung: Anatevka, ein vorwiegend jüdisches Dorf in der Ukraine. Hier ist Tradition der Leitfaden schlechthin, eine Tradition, die weit über die Religion hinaus geht. Zur Heirat gehören beispielsweise mehr als zwei Menschen, da braucht es noch eine Heiratsvermittlerein, einen Vater, der die Genehmigung der Ehe segnen muss usw. Wir kennen die Dramen, die Stoff nicht nur für bescheidene Operetten wie Anatevka lieferten, zur Genüge. Romeo und Julia und hastenichgesehn. Er will sie. Sie ihn auch, und Papa will ihn nicht. Wegen der Tradition, und während es im venetischen Drama verfeindete Familien sind, die den Ehehinderungs-Hintergrund bilden, ist man im Russland des 19. Jahrhunderts schon etwas weiter. Hier mischen sich dann schon gefühlter Ethnos, Ethos, Religion und Weltanschauung zur Begründung dafür, dass Menschen nicht zusammen kommen dürfen. Das aber ist alles nicht neu; und bis in die Gegenwart begreiflich für jeden Mann, der die Gunst seines Schwiegervaters aus einem ihm fremden Kulturkreis begehrt. Leidvoller sind solche Situationen für die auserwählten Damen, denn sie sind es, die die Auswahl getroffen haben, und sich gegenüber ihrem Herrn Papa durchzusetzen haben: und eigentlich sind sie die Heldinnen der Geschichte. In aller Regelmäßigkeit durchbrechen sie die „Traditionen“, setzen ihren Kopf durch und folgen dem möglicherweise geliebten Mann. Mobilitäts- und Heiratsstatistiken der Gegenwart, Appelle des Landesvaters an die Frauen unseres Landes, doch bitte aus dem Westen wieder heim zu kehren, Hochzeitsurkunden des Mittelalters und genetische Analysen an Gebeinen der Vorgeschichte belegen es: Frauen, Mädchen, sind mobiler als Männer, und sie sind durch kein Gesetz der Welt zurück zu holen. Schon gar nicht durch das Gebot der Tradition.

So jedenfalls geht es auch Tevje, dem armen Milchmann. Er verliert im Laufe des Dramas immerhin drei von fünf Töchtern, paradigmatisch für die vorrevolutionäre Zeit um 1905: Zeitel, die älteste, an einen armen Schneider, immerhin jüdisch. Hodel an den anarchistischen Lehrer und Revoluzzer aus Kiev. Und Chava, die dritte Tochter, an Fedja, einem Christen, ausgerechnet auch das noch. Tevje der Milchmann, ruft in solchen schrecklichen Situationen seinen Gott an, und man möchte geradezu sich an Hiob erinnert fühlen, doch dazu kalauert es in dem Stück (im Original) dann doch zu sehr mit jiddischen und peseudojiddischen Witzeleien, wegen derer sich das Publikum seit 1964 auf die Schenkel klopft – vom Broadway bis nach Halle reicht da der Konsens des Schmunzelhumors, den vor allem Nichtjuden für typisch jüdisch halten möchten und darob gerührt lächeln und klatschen. Ganz schmunzelig kommt denn auch die Vertreibung der Juden aus Anatevka herum – nach dem Befehl der zaristischen Polizei, innerhalb dreier Tage Haus und Hof verkaufen zu müssen (an wen?), verteilt man sich in alle Welt. Die armseligen materiellen Dinge werden flugs verspottet, nur ein ganz wenig die Heimat beklagt, und hossa, geht es auf in die Fremde. Spätestens hier ist die Originalvorlage von Scholem Alechem, Tewje der Milchiger („Tewje, der Milchmann“), entstanden zwischen 1894 und 1916, etwas weniger lustig und weniger Broadway-kompatibel. 1964 wird dann daraus die Operette „ Fiddler on the Roof“, unter deren Namen sie erfolgreich und weltbekannt ist, im deutschsprachigen Raum und deutscher Übersetzung kennt das Operettenvolk sie als „Anatevka“ (Deutsche Übertragung: Rolf Merz und Gerhard Hagen). Bevor wir nun endlich zur halleschen Übersetzung des nun schon weichgespülten Drams kommen, noch eine Anmerkung zum englischen Titel des Musicals: Fiddler on the Roof“: der Geiger auf dem Dach.
Wer mit der Bilderwelt des 20. Jahrhunderts vertraut ist, dem fällt das Repertoire des russisch- jüdischen Malers Marc Chagall ein. In Chagalls Bildern, in denen sich immer wieder die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat manifestiert, ruhen auch die Klischees, mit denen leider nicht nur die Operettenvorlage, sondern auch die hallesche Inszenierung zu kämpfen hat. Das transzendente Motiv des Geigers auf dem Dach, wohl gemeint als Seele, Gewissen, Vermittler zwischen Gott, Vernunft und Mensch, jener Geiger also, der schon in der Operettenvorlage sich nur als bemühtes Eingangszitat erkenntlich gibt, wird in der halleschen Inszenierung (Matthias Hülstebeck) zu einer weißen Figur, die immer und überall ausgesprochen lästig, weil zu gewollt bedeutungsschwanger, in Erscheinung tritt (Axel Köhler). Dabei hat diese Figur überhaupt nichts zu sagen, jedenfalls nicht in dieser Inzenierung. Sie ist kitschig und vollkommen überflüssig in diesem weißen Kostüm mit Hut, die in gartenzwergischer Weise versucht, bedeutungsschwere Pathosformeln im Hintergrund aufzubauen.
Dafür können die Schauspieler und Sänger nur bedingt etwas. Tevje wird gespielt und gesungen von Jürgen Trekel, der in dieser Rolle sein Abschiedsdebut gibt. „Danke Jürgen“, das Plakat, mit Doppelklebeband an der Wandvertäfelung im Zuschauerraum befestigt, fällt immer wieder runter, und die Fans von Jürgen Trekel fallen während der letzten Takte mit albernen Leuchtstäben und dem Versuch auf, ein gleich lautendes Danke-Transparent im Zuschauerraum aufzuspannen. Das hat Jürgen Trekel nicht verdient, denn er spielt die Tevje-Rolle wirklich nicht so provinziell, wie die Inszenierung und wie offenbar auch die Zuschauererwartungen es sind. Leider ist er auch so ziemlich der Einzige, dessen künstlerische Leistung unbedingt lobenswert ist. Vielleicht noch Maryam El-Ghussein, weil sie singen kann. Und Maria Patraskova, weil sie mimistisch als Jente, der intriganten Heiratsvermittlerin, so schön authentisch rüberkommt.
Das Bühnenbild macht mir jegliche Versuche, diese Inszenierung gut zu finden, vollkommen zunichte. Alle Klischees werden bedient: romantische Bretterbuden als Hintergrund, ach stille Einfalt, edle Größe, die sich dann in trotz aller Armut gestärkten und unbefleckten Kostümen entfaltet, schlichtweg: eine Kulisse, die dem Publikum von Musikantenstadelformaten diverser dritter Programme zur Freude gereichen dürfte. Hach, und wie schön ist das Bild, wo Tevje den Schlagermusikvolkskunstkarren mit dem weißen Geiger drauf auf die Bühne schleppt. Das ist Hochkultur, weichgespült und mundgebissen.